Mindestlohn als Existenzsicherung?

Als Markenzeichen des globalen Kapitalismus gilt mittlerweile der Brauch, Arbeitsleistung in Länder auszulagern, in denen die Lohnkosten um ein Vielfaches geringer sind, als in industrialisierten Gesellschaften. Diese Vorgehensweise gilt in Branchen wie der Lebensmittel-, Elektronik- und vor allem auch der Textilindustrie als fester Bestandteil des Geschäftsmodells. Zwar beteuern internationale Unternehmen, sich an gesetzliche Vorgaben zu Mindestlöhnen zu halten und diese von ihren Zulieferern einzufordern. Jedoch herrscht ein eklatanter Unterschied zwischen den gesetzlichen Standards und dem, was man als würdevolle Entlohnung bezeichnen kann.
Besonders in vielen Ländern Südost-Asiens liegt der Mindestlohn oft unter der nationalen Armutsgrenze (die Weltbank definiert diese aktuell bei 2 Dollar pro Tag und Person). Das Problem dabei ist, dass Staaten die Mindestlöhne selbst vorgeben und sich dabei oftmals nicht an den tatsächlichen Grundbedürfnissen der ArbeitnehmerInnen orientieren. Ein existenzsichernder Lohn nimmt hingegen Rücksicht auf die tatsächlichen Kosten, die Menschen in den betroffenen Regionen erwarten, wenn sie ein würdevolles Leben führen möchten. Dabei werden Bedürfnisse wie Lebensmittel, Wohnen, Transport, Bildung, Gesundheit und Kleidung berücksichtigt, wie auch die Möglichkeit, kleine Rücklagen für die Zukunft zu tätigen. Die Berechnungen beziehen sich dabei auf einen Vollzeitlohn ohne Überstunden und orientieren sich an den Ausgaben für eine vierköpfige Familie. Leider werden in den betroffenen Ländern so gut wie nie derartige Löhne bezahlt. Nur ein paar Beispiele:
– Ukraine: Mindestlohn 98 Euro, errechneter Existenzlohn 477 Euro
– Serbien: Mindestlohn 169 Euro, errechneter Existenzlohn 652 Euro
– Bangladesch: Mindestlohn 50 Euro, errechneter Existenzlohn 214 Euro
– Kambodscha: Mindestlohn 146 Euro, errechneter Existenzlohn 477 Euro
– Bulgarien: Mindestlohn 204 Euro, errechneter Existenzlohn 1.112 Euro
– Türkei: Mindestlohn 334 Euro, errechneter Existenzlohn 1.182 Euro
– Indien: Mindestlohn 94 Euro, errechneter Existenzlohn 297 Euro
Ausreden der Unternehmen
Marktliberale argumentieren an dieser Stelle oft mit dem Vorwand, dass das Zahlen höherer Löhne die Wettbewerbsfähigkeit einschränken würde. Durch einen Blick auf die tatsächlichen durchschnittlichen Lohnkosten, beispielsweise in der Modeindustrie, lässt sich diese Behauptung jedoch schnell entkräften. So beträgt der Anteil des Lohns von ArbeiterInnen im Zuge der Erstellung eines 29 Euro T-Shirts gerade einmal 18 Cent. Selbst die Verdopplung dieses Betrags und die Weitergabe der zusätzlichen 18 Cent an den Endkonsumenten würde wohl kaum in dessen Ablehnung des Produktes resultieren. Auch das Argument, Regierungen wären für die Einführung höherer Mindestlöhne zuständig, ist scheinheilig. Denn defacto ist es so, dass sich Regierungen unter dem internationalen Wettbewerbsdruck gezwungen sehen, die Löhne niedrig zu halten, um Produktionsverlagerungen in andere billige Länder zu unterbinden. Konzerne stehen diesbezüglich in der Pflicht, sich zu einem existenzsichernden Lohn zu bekennen und gegenüber den Regierungen klarzumachen, dass sie die Produktion nicht ins Ausland verlagern, falls der Lohn angehoben wird. Und auch wenn es Unternehmen der lokalen Bevölkerung ermöglichen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und in dieser Hinsicht positiven Impact auf die Region haben, heißt das nicht, dass dies entgegen allen Regeln der Menschenwürde von Statten gehen darf. Das betrifft nicht nur Löhne, sondern auch Arbeitsbedingungen und -zeiten.
Und nun?
Als mögliche Lösung des Problems wird die Einführung des Asia Floor Wages gesehen. Dieser schlägt einen einheitlichen Mindestlohn, der in allen Ländern als existenzsichernd gilt, für die Textilbranche in betroffenen Ländern in Asien vor. Gemessen an der Kaufkraft und damit den Kosten für Unternehmen, wäre der Lohn in allen Ländern gleich hoch, bloß durch die unterschiedlichen Währungen unterscheiden sich die Werte. Somit wäre der standortbezogene Wettbewerb eingedämmt und billigere Alternativen nicht mehr möglich. Allerdings müssten sich die Regierungen dieser Länder auch untereinander auf dessen Einführung verständigen, was auch als Herausforderung betrachtet werden kann. In jedem Fall müssen Unternehmen endlich aufhören, den marginalen Teil der Lohnkosten als entscheidenden Faktor für ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sehen und dafür jedwede Arbeitsbedingungen in den Fabriken ihrer Zulieferer stillschweigend hinzunehmen – vor allem, in Anbetracht ihrer Gewinne in Milliardenhöhe. Denn eines darf nicht vergessen werden: existenzsichernde Löhne sind ein Menschenrecht (Art. 23/3).
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